Tanzfabrik
Berlin
Fabrik
Fabrik

Geschichte

Remembering the Future

  • 1987
    Terra Incognita
    Performance von Claudia Feest, Dieter Heitkamp
  • 2014
    Marzo
    Performance von Dewey Dell
  • 1991
    Secret Correspondance
    Performance von Dieter Heitkamp, Kurt Koegel, Ka Rustler
  • 2013
    Beep
    Performance von Karol Tyminski
  • 1994
    Die Nacht
    Performance von Helge Musial | Performer*innen: Sabine Lemke, Norbert Kliesch
  • 2016
    The way you look (at me) tonight
    Performance von Claire Cunningham, Jess Curtis
  • 1989
    Multiples
    Performance von Jacalyn Carley
  • 2008
    danse (4)
    Performance von Rosalind Crisp
  • 1993
    Der Tunnel
    Performance von Claudia Feest
  • 2018
    Limitation Piece 2
    Performance von Suddenly
  • 1983
    Windeier
    Performance von Jacalyn Carley, Dieter Heitkamp | Performerin: Riki von Falken
  • 2016
    The Bony Labyrinth
    Performance von Julian Weber
Anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Tanzfabrik Berlin im Jahr 2018 ist das Buch: Remembering the Future – 40 Jahre Tanzfabrik Berlin erschienen, aus dem die folgenden Artikel stammen. Es beinhaltet weitere Artikel, Künstler*innen-Beiträge und einen ausführlichen Bildteil.

Das Buch ist in der Tanzfabrik für 5€ erhältlich.

Die ersten 25 Jahre

↪ Von Schlafkojen und handtuchschmalen Bühnen. 25 Jahre Tanzfabrik Berlin

Von Irene Sieben

Sie waren die ersten. Und sie hatten, allen drastischen Umbrüchen zum Trotz, die Kraft des langen Atems, um bravourös zu überleben.  Jene bunte Schar von Tänzern, Musikern, Bildenden Künstlern, Sport-, Biologie- und Religionswissenschaftsstudenten, die vor einem Vierteljahrhundert, nein, nicht auf dem Monte Verità, sondern am Fuße des Berliner Kreuzbergs die Tanzfabrik gründete, war in Deutschland Vorreiter einer Bewegung mit globaler Strahlkraft. Der Zeitgenössische Tanz auf freier Szene blühte ja von Anbeginn als internationales Phänomen. So liefen in einer stillgelegten Hinterhoffabrik – Traum-Quadratmeterpreis 1,76 DM – die Fäden zusammen: historisch, multikulturell, intermedial vernetzt.  Als Pioniere im Überbrücken von Ideen, Stilen und Ideologien, bieten die Tanzfabrikler seither der vergänglichsten aller Künste Konstanz und zugleich Freiraum, damit sie sich, losgelöst von Technikdiktaten, schneller verflüchtigen kann, um Neuem Platz zu machen. Das heißt: Suchbewegungen zu erlauben, Kommunikation, Körperrecherche und Bewusstseinserweiterung möglich zu machen.

„Experimentieren heißt, sich auf etwas einzulassen, was man noch nicht weiß“, brachte es Dieter Heitkamp auf den Punkt, einer der innovativsten im Team.  Er bündelte damit seine Philosophie des Forschens, die in der Tanzfabrik wilde, bunte, zarte Blüten trieb. Ein Credo, das auch heute noch gilt, obwohl die Existenz auf allen Ebenen schwieriger geworden ist, eine eigene Kompanie nicht mehr existiert. Das Kollektiv ist längst gestorben. Die Schlafkojen wichen Tanzräumen. Der Ort mutierte zum Proben- und Experimentierzentrum. Fortbildung, Nachwuchsförderung und der Aufbau von Netzwerken steht neben der künstlerischen und pädagogischen Arbeit im Zentrum, seit Claudia Feest Mitte der neunziger Jahre alleinige Künstlerische Leiterin wurde – und nun die Verantwortung an die jüngere Generation weiterreicht, an Eva-Maria Hoerster. Die Tanzfabrik-Dramaturgin zieht grob Bilanz: In 25 Jahren können 500.000 Unterrichtsstunden für rund 10.000 Schüler, 86 Eigenproduktionen und über 160 Gastspiele stolz verbucht werden. Allein im Jahr 2002 nutzten 74 Choreografen die Probenräume. Christoph Winkler, Kazue Ikeda und Martine Pisani haben die Ehre, Artist in residence zu sein. Mit mageren 125.000 Euro Spielstättenförderung sind nun kleinere Schritte vonnöten.

Die Geschichte der Tanzfabrik ist eng verknüpft mit der Emanzipation einer freien Tanz- und Theaterszene und zugleich mit der Suche nach Wurzeln einer Tradition der Moderne. Zehn Jahre nach den Protesten der 1968er-Rebellen definiert sich im Off gesellschafts- und kulturpolitischer Aufbruch neu. Die linke taz, die UFA-Fabrik werden gegründet. Die Drei Tornados, später Stars im Tempodrom, sind das kabarettistische Pendant zur Alternativen Liste. Zehn Jahre nach der Schließung des Mary Wigman Studios 1967 – letztes Ausbildungszentrum für modernen Tanz in Berlin – und der Abwanderung der ersten freien Tanzkompanie Motion nach Philadelphia knüpfen ›Ableger‹ der letzten Schüler Wigmans in den USA an die deutsche Avantgarde an.  Christine Vilardo, Motor des ersten Tanzfabrik-Teams, kommt 1977 mit der Zero Moving Dance Company des letzten Wigman-Assistenten Helmut Gottschild zu einem Gastspiel in die Akademie der Künste und damit zurück zur Quelle. Zero Moving hat sich in Philadelphia von Motion abgespalten und Gottschild durch seine Universitätsarbeit die Tanzszene in Philadelphia bis heute stark mitgeprägt. Vilardo führt in Berlin die neue Contact Improvisation ein. Der Sportstudent Reinhard Krätzig holt sie zu einem Seminar. Die Urzelle der Tanzfabrik pulsiert. Der Funke springt über. Es ist Sommer 1978.

Die Anfänge atmen sowohl die Prinzipien der Wigman-Tradition, die von Kei Takei beeinflusste Suche nach Natur, als auch Improvisationstechniken des Living Theater. Was die Postmodernen der Judson Church-Generation abgetrotzt haben, findet hier staunende Nachforscher. Auch Jacalyn Carley stammt aus Philadelphia und hat, wie Tonio Guerra und Rick Schachtebeck, mit denen sie in Berlin das Trio Tripticon gründet, mit Motion gearbeitet. Sie hält die Fahne der Professionalität auch künftig hoch. Petra Kugel und Leanore Ickstadt stoßen als letzte direkte Wigman-Schülerinnen nur als Durchreisende hinzu. Der Rest im Team ist unbeleckt, neugierig, aufnahmebereit. Der kollektive Geist bestimmt mit Chaos und Enthusiasmus die ersten Jahre. Die Suche nach der Utopie, Kunst und Alltag zu verknüpfen, lässt sie zusammen wohnen und arbeiten, performen und lehren, lieben und contactimprovisieren. Schon damals spiegelt sich in Solos, Duos und Gruppenstücken mit unterschiedlicher Form, Farbe, Faszination und Finesse die Grundidee des Kollektivs: viele Menschen und Meinungen, Stile und Geschmäcker unter einem Schirm zu vereinigen. Ein alternatives Lebenskunstmodell.

Die ästhetische Mischung ist skurril und inspirierend. Sie reicht vom fliegenden Kostümwechsel des Roger Pahl, der sich in Travestie- shows bei Romy Haag sein Brot verdient, über die kinetische Kunst des Fred Holland, die in Zeitmaß und Geometrie ans Bauhaus erinnert, bis zur Identitätssuche der Folkwang-Studentinnen Heidrun Vielhauer und Sygun Schenck in den Farben des aufstrebenden deutschen Tanztheaters. Nicht ohne Konflikt mischen sich die witzig-virtuosen Tanz-Text-Choreografien (um Gertrude Stein, Raymond Federman und Dada-Dichter) von Jacalyn Carley mit dem, was Release-Technik-Freaks wie Dieter Heitkamp, Ka Rustler und Kurt Koegel aus dem weiten Feld experimenteller Bewegungsforschung vom Body-Mind-Centering-Universum nach Kreuzberg expedieren. Haut und Haar, Lunge und Lymphe werden thematisch ausgeschlachtet. Athletisch-sprungstark Muskeln und Mystischem verhaftet, messen sich Helge Musial und Sabine Lemke in Spielen zu zweit oder Musial mit Heitkamp im legendären Duett Zwei Herren und ein Saxophon.

Als Peter Stein von der Schaubühne 1980 ein Drittel seines Berliner Kunstpreises an die Tanzfabrik weiterreicht, ist erstmals Geld zum Produzieren da. Und es fließt noch mehr aus dem Lottotopf. Eine lange, goldene Erfolgssträhne folgt. Die Räume können grundlegend saniert werden. Mit großzügigen Senatszuschüssen und einer Optionsförderung wächst der Anspruch auf Professionalität. Und zugleich schrumpft die WG. Ein fester Stamm von Tänzern / Choreografen auf hohem Niveau tanzt Repertoire, reist zu Gastspielen, kämpft heftig um die Verteilung der Produktionsmittel.

Es gibt kaum etwas auf dem Feld von Tanz, Performance und Installation, was es hier nicht schon gegeben hat: die Gender-Debatte (Mann tanzt 1983, Buddy Bodies 1984), Feminismus und Frauenpower ( ... drin und Gewinn, immer so hübsch 1983, Medeas Töchter 1995, Wild wie Milch und zobelsüß 1990), die Auseinandersetzung mit Dadaismus und dem Bauhaus (Jandl Gedichte 1981, Schwitters Ursonate 1982, Der Riss 1991), die Vernetzung von Malerei mit Tanz (Der Maler des Raumes wirft sich in die Leere, Principle of Moment 1994), die kritisch-poetische Durchleuchtung der Sportbewegung (Sieg der Körperfreuden 1985) und des Holocaust (Projekt X 1992), Gravitations-Erprobung und Tanz der Körpersysteme (Fields in Fluency 1990, Zerfall der Schwerkraft 1992, Das Auge im Ohr 1994). Tanz-Film-Projekte häufen sich: Der Gehängte im Garten der Venus, Kontakt Triptychon, Gabriels Gang, Gliederschleudern, Augenblicklicht, Waiting for the Miracle.

Die Kooperation mit Musikern wie Klaus Staffa, Friedemann Graef, Michael Rodach, Sebastian Hilken, dem Bob Rudmans Steel Cello Ensemble und immer wieder mit der singenden Performerin Gayle Tufts bescherte der Tanzfabrik satte Kompositionen und bewahrte sie vor der üblichen Praktik des Zusammenschusterns von Konservenklängen. Ein Publikum aufzubauen und zu erziehen, war damals leicht. Es hungerte nach Tanz. Dazu gehörte auch, selbst zu tanzen, sein persönliches Feeling einzubringen. Die Tanzfabrik expandierte im eigenen Haus und bietet in besten Zeiten bis zu 50 Klassen pro Woche mit über 500 Schülern. Der Beuys-Slogan „Kultur für alle“ wird Realität. Oder verschafft sich noch einmal Labans Leitsatz Gehör „Jeder Mensch ist ein Tänzer“?

Die Zuschauer aufzumischen und aus der Guckkasten-Perspektive herauszulocken, hat nicht erst Sasha Waltz im Jüdischen Museum und in ihren Schaubühnen-Projekten 17-25/4 und insideout meisterlich geschafft. Die Bühnenwirklichkeit wird aufgebrochen. 1980 schon geht’s in der Möckernstraße 68 treppauf treppab bis aufs Dach. Auf den Mauervorsprüngen hocken reglos menschliche Statuen. Wer quer überm Fahrrad hängt, rollt später die Treppen hinab. Körper als pulsierende Teile aparter Hinterhofarchitektur. Claudia Feest und Dieter Heitkamp rufen 1987 mit Terra Incognita erneut zu einer Expedition durch unbekannte Räume auf. Das Sitzkissen in der Hand, ohne Schuhe, geht es zugleich ins Reich des Unterbewussten und – während die Wissenschaft an Klonen bastelt – in die Biologie des Körpers, zur Struktur von Genen und Chromosomen.

1988, Berlin ist Kulturstadt Europas. Der freie Tanz boomt. Die Gründung der TanzWerkstatt mit einer Fülle von Kursen und der European Contact Teachers Conference bringt zum 10. Geburtstag volle Studios. Doch der Plan, die Tanzfabrik als Projekt mit Privattheatercharakter zu institutionalisieren oder gar als Tanzhaus zu etablieren, zerschlägt sich mit der Wende und dem immer knapper werdenden Geld. Der Zeitgenössische Tanz springt über ins klassische Lager. Dieter Heitkamp und Helge Musial choreografieren an der Deutschen Staatsoper, Jacalyn Carley mit Tänzern der Komischen Oper. Die Konkurrenz aus Ost wächst. Viele junge Tänzer zieht es nach Mitte und zum Prenzlauer Berg. Marameo, Dock 11, fabrik Potsdam, sie alle haben aus dem Tanzfabrikkonzept gelernt. Der Kampf ums Überleben auf einer zersplitterten Szene ist hart, doch die Tanzfabrik stellt sich als kleine, äußerst flexible und effiziente Leit-Institution der freien Szene den Herausforderungen. Sie hält die theoretische Diskussion mit ihrer Reihe Tanz & Text stetig wach. Und sie kämpft darum, wieder Produktionsort zu sein.

Manche, die derzeit in Schlüsselpositionen dem Tanz dienen oder ihn künstlerisch voranbringen, hatten einst die Tanzfabrik im Rücken oder übten an und in ihr das Hand-(Fuß-)Werk ihrer speziellen Tanzästhetik. Gründungsvater Heitkamp kann sein Erfahrungsspektrum heute als Professor für Zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/M. weitergeben. André Thériault greift als Leiter der TanzWerkstatt Berlin auf seine Erfolge als Organisator der Tanzfabrik zurück. Er weiß seither, wie Infrastrukturen auf- zubauen sind. Jacalyn Carley, einst Tanz-und-Text-Expertin im Team, reüssiert als Schriftstellerin. Ihre Themen sind ironisch-tänzerischer Natur. Riki von Falken, einst Teil der Keimzelle des Kollektivs, entfaltet sich inzwischen ausschließlich im streng reduzierten Solo. Und Sasha Waltz probierte sich als Gast hier ebenso aus wie Xavier Le Roy, als er noch Geschwindigkeitsforschung betrieb.

Zum 25-jährigen Jubiläum setzt die Tanzfabrik reConstruction neben newProduction. Mit Ernst Ernst-Jandl Gedichte vertanzt durfte die jüngste Generation Carleys gewitzten Umgang mit bewegter Sprache nachvollziehen, in Rapid Eye Movement der einst sagenhaften Partnerschaft von Dieter Heitkamp und Helge Musial nachspüren, und sich in den Sophiensälen das Erfolgsstück mit dem unaussprechlichen Bandwurmtitel whodidwhattowhomwasneverreallyclearandisn’tittheawfultruth einverleiben, das 1987 auf der handtuchschmalen Bühne der Akademie der Künste Furore machte. Ein Krimi aus 45 Einminutentänzen als Comic aufgepeppt, so turbulent, dass sogar die etablierte Kritik Hurra jubelte. Ein Heitkamp, wie er leibt und lebt. Schön, dass er wieder leben darf und der Vergänglichkeit ein Schnippchen schlagen.

Dieser Artikel erschien in ballett intern 5, Dezember 2003, S. 10 – 12. ballett intern war eine Beilage zu Das TanzJournal und wurde 2018 in der Dokumentation Remembering the Future – 40 Jahre Tanzfabrik Berlin abgedruckt.

1995 - 2005

↪ Modell Tanzfabrik Berlin. Die Neuausrichtung 1995 bis 2005 


Mitte der 90er-Jahre durchlief die Tanzfabrik Berlin eine Phase der künstlerischen Neuorientierung. Der Kollektiv-Gedanke war durch eine Vielzahl unterschiedlicher choreographischer Einzelpositionen ersetzt worden. Zudem hatten sich durch die Wende und die Herausforderungen der Berliner Kulturpolitik nach der Vereinigung beider Stadthälften seit dem 3. Oktober 1990 die Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Zwar war die Tanzfabrik als Akteurin innerhalb der Tanzszene wie auch vom Publikum und von der Politik anerkannt und etabliert, doch gelang es ihr nicht, in eine institutionelle Förderung aufgenommen zu werden. Sie galt als Zusammenschluss von Choreograph*innen, war selbstorganisiert und erhielt für deren künstlerische Arbeit Produktionsmittel. „Wir standen seit etwa Mitte der 80er-Jahre hinweg immer wieder an der Grenze, als Institution eine Art Regelförderung zu erhalten“, so Claudia Feest. Doch kultur- und finanzpolitisch war in dieser Umbruchzeit vor allem in West-Berlin keinerlei neue Institutionalisierung durchsetzbar. Ein Erhalt der ursprünglichen Struktur – eine kollektiv geführte Company mit jährlich fünf bis acht Produktionen durch mehrere Hauschoreograph*innen – war nicht mehr möglich. Im Jahr 1995 wurden die Zuschüsse des Landes Berlin für die Tanzfabrik stark gekürzt. Die Tanzfabrik musste ihre künstlerische Arbeit neu definieren und auf die geänderten politischen und damit zugleich finanziellen Bedingungen reagieren. 1995 übernahm Claudia Feest im Auftrag der damaligen Hauschoreograph*innen Dieter Heitkamp, Ka Rustler, Helge Musial und Sabine Lemke die Künstlerische Leitung. Im gleichen Jahr kam auch Eva-Maria Hoerster als Nachfolgerin von Gisela Göttmann zunächst als Produktionsleiterin hinzu. Im Herbst 2003 wurde sie dann ihrerseits Künstlerische Leiterin. In diesem Zeitraum entwickelte sich die Tanzfabrik zu einem Forum für die choreographische Arbeit einer Vielzahl von bereits in Berlin ansässigen wie auch neu hinzugekommenen Tänzer-Choreograph*innen.

Claudia Feest: 1995 änderte sich das Profil der Tanzfabrik insofern, als dass eine Gruppe von ›Hauschoreographen‹ unter meiner künstlerischen Gesamtleitung weiterhin Stücke produzierte, während Eva-Maria die organisatorische Leitung innehatte. Das war eine wichtige Übergangsphase, in der sich vieles verändert hat. Bis 1995 waren wir ein künstlerisches Leitungs- und Choreograph*innen-Team aus drei Personen: Dieter Heitkamp, Jacalyn Carley und mir. Als aber mit Jacalyn aufgrund von künstlerischen Differenzen eine der wichtigen Tanzfabrik-Choreographinnen ausschied, wurden die Produktionsmittel um 40% reduziert – für den Senat war dies vermutlich ein willkommener Anlass, Geld einzusparen. Ab 1998 gab es dann weitere Veränderungen und Dieter Heitkamp ging als Professor an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst nach Frankfurt am Main.

Eva-Maria Hoerster: Als ich im Juli 1995 in Berlin ankam, war die große Neuigkeit, dass es diese Kürzung in der Basisförderung gab – ein erheblicher Einschnitt für die künstlerische Arbeit der Tanzfabrik. Der Senat vertrat den Standpunkt, die Tanzfabrik sei kein Choreograph*innen-Kollektiv mehr, sondern eine Spielstätte und brauche somit keine eigenen Produktionsmittel. Der zeitgenössische Tanz hat sich in dieser Zeit in Berlin stark entwickelt, die Szene wuchs, die Konkurrenz um Mittel wurde größer. Jedenfalls erhielten wir ab 1999 vom Berliner Kultursenat eine Spielstättenförderung ohne Produktionsanteil.

Claudia: Dies war ein Grund, die Tanzfabrik inhaltlich neu auszurichten. Bei Gastspieleinladungen in den 80er- und 90er-Jahren gab es von Veranstalterseite immer wieder die Frage, was denn die Tanzfabrik eigentlich genau sei. Dem Senat und auch manch einem Veranstalter wäre es lieber gewesen, es hätte eine choreographische Handschrift von einem Choreographen oder einer Choreographin gegeben, eine Company und nicht diese Kollektiv-Idee mit mehreren gleichberechtigten Künstler*innen. So hatten andere Einrichtungen wie zum Beispiel die Tanzwerkstatt Düsseldorf, das spätere tanzhaus nrw, wesentlich mehr Erfolg in Bezug auf Fördermittelakquise zur strukturellen Absicherung: Wo es einen Chef bzw. Intendanten gibt, wurden viel bereitwilliger öffentliche Strukturfördermittel in Größenordnungen zugesprochen, die für die Tanzfabrik mit ihrer kollektiven Struktur immer unerreichbar blieben.

Zur Arbeitsweise

Es ging in diesen Jahren darum, die Entwicklungen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes in Berlin in anderer Weise zu begleiten und zu gestalten als in den ersten zwanzig Jahren seit Bestehen. Die Tanzfabrik entwickelte ein neues Profil, sie wurde zu einem Raum der Ermöglichung für eine große Anzahl von Tänzer*innen und Choreograph*innen. In engem Austausch mit den aktuellen Entwicklungen, Anliegen, Bedürfnissen und Notwendigkeiten stellte die Tanzfabrik eine Infrastruktur zur Verfügung. So entstand neben der offiziellen und mit öffentlichen Mitteln geförderten Funktion als Spielstätte der Charakter eines Laboratoriums und Arbeitszentrums für vielfältige Themen und Forschungsanliegen des zeitgenössischen Tanzes: von der Kunst der Improvisation über Präsentationsformate bis hin zu Vermittlung und Diskurs. Außerdem bildete die Schule mit Profitraining, wöchentlichen Tanzkursen und regelmäßigen Workshop-Programmen für professio- nelle wie auch für Laientänzer*innen weiterhin einen Schwerpunkt des Modells Tanzfabrik.

Claudia: In der Publikation zum zwanzigjährigen Bestehen der Tanzfabrik Berlin hatte ich dargestellt, was aus meiner Sicht das besondere Markenzeichen der Tanzfabrik ist: Vielseitigkeit und Vielfalt – also Begrifflichkeiten und Konzepte, die heute überall im Tanzbereich gebräuchlich sind. Wir verstanden darunter aber nicht nur stilistische, ästhetische und inhaltliche Vielfalt oder eine Verschiedenheit der Idetitäten, sondern auch die Begegnung von Professionellen und Nichtprofessionellen. Durch die Schule hatten wir ja immer auch tagtägliche Verbindung zu Menschen, die an Tanz interessiert, aber nicht unbedingt selbst künstlerisch tätig waren. Zudem war uns spartenübergreifende Arbeit sehr wichtig. Der Austausch mit Künstler*innen anderer Genres war ja schon in der Anfangsphase der Tanzfabrik ein zentrales Anliegen gewesen.

Eva-Maria: Und wir hatten immer eine große Offenheit für internationale Künstler*innen, die in Berlin Fuß fassen wollten. Wir waren Anlaufstelle für Neuankömmlinge – aus Frankreich, Australien, Japan, Kanada, Estland ... Wir präsentierten oft junge Künstler*innen, die ihre Karriere gerade erst begonnen hatten. Für manche war das ein wichtiges Sprungbrett.

Claudia: Die Tanzfabrik hat nie streng hierarchisch funktioniert, mit einer Person an der Spitze, die sagt, wo es langgeht. Wir hatten immer ein Selbstverständnis im unmittelbaren, direkten Austausch mit der Szene Berlins, den Choreograph*innen, den Tänzer*innen, Performer*innen, Improvisationsleuten. Wir waren als Leitungsteam immer in sehr enger Kommunikation mit den Künstler*innen. Aus dieser Nähe sind unsere Themen entstanden, sie wurden nicht willkürlich entschieden. Wir haben immer wieder in die Tanzszene hinein gefragt, gehorcht und beobachtet. Was macht ihr? Woran seid ihr gerade? Was ist euer Interesse? Die Tanzfabrik verstand sich als eine Plattform für Tanz, für das, was in der Tanzszene akut war und gebraucht wurde. Ließen sich Tendenzen heraushören, neue Ideen, neue Aspekte, die wichtig waren aufnehmen?

Eva-Maria: Die Tanzfabrik hatte ja kein eigenes künstlerisches Budget mehr, sondern nurmehr eine finanzierte Infrastruktur. Das erlaubte uns aber immerhin, Arbeits- und Probenräume zu vergeben. Wir haben ein recht differenziertes System der Raumvergabe entwickelt. Es gab die Residenzkünstler*innen, die teils mehrere Jahre der Tanzfabrik verbunden waren. Dann gab es diejenigen ohne eigene Produktionsmittel, die nur ganz wenig Miete bezahlen mussten, eigentlich eher symbolische Preise. Schließlich dann diejenigen mit einem eigenen Produktionsbudget, die etwas mehr gezahlt haben. Es war eine Art Tarifsystem, das sich am Förderstatus der Künstler*innen orientierte. Aktuell wird dieses Prinzip vom Kultursenat aufgegriffen, um subventionierte Arbeits- und Probenräume zur Verfügung zu stellen.

Und mit der Reihe Tanz im Studio 1 boten wir ein Forum für Berliner und internationale Künstler*innen an. Wer dort etwas zeigte, bekam – wie an vielen Bühnen der freien Szene damals wie heute üblich – zwar keine Gage, sondern nur anteilige Einnahmen der Abendkasse; aber wir boten Unterstützung in Form von Probenzeiten in den Studios, Technik, Öffentlichkeitsarbeit und neben tanzdramaturgischer Begleitung, wenn möglich und gewünscht, das was man heute Mentoring und Feedback nennen würde. Produktionsmittel gab es keine, nur ab und zu konnten Drittmittel akquiriert werden, so ab 2000 beim Hauptstadtkulturfonds, der damals gerade neu eingerichtet worden war, beim Bureau du théâtre et de la danse der französischen Botschaft, beim Fonds Darstellende Künste, später dann auch mit EU-Projekten, vor allem durch das apap-Netzwerk, das ja bis heute besteht.

Claudia: Projektarbeit wurde in diesen Jahren die Existenzgrundlage für alle Tanzeinrichtungen und Tanzschaffenden in der freien Szene, auch für die Produktionshäuser und Spielstätten. Heute stellen wir fest, dass die Projektarbeit mit ihrer Kurzatmigkeit und den kuratorischen Vorgaben an ihre Grenzen gestoßen ist. Aber vor 20 Jahren war das eine kulturpolitische Innovation und vielleicht auch ein Notbehelf angesichts der desolaten Finanzlage der Stadt.

Ausbildung und Kulturpolitik

Von Anfang an war die Tanzfabrik nicht nur ein künstlerisches Labor und kreatives Zentrum, sondern engagierte sich immer auch im kultur- politischen Bereich, insbesondere im Bereich Ausbildung. Das fortlaufende tägliche Kursangebot mit Profitraining und Unterricht für alle Levels, die internationale Ausrichtung bei den Workshop-Wochen im Frühjahr und Sommer, die Workshops und Master Classes im Rahmen von „Tanz im August“ und die Choreographischen Werkstätten, die als Weiterbildungsformat 2001 bis 2004 jedes Jahr stattfanden, waren und 
sind wichtige Bestandteile der künstlerischen und pädagogischen Arbeit der Tanzfabrik und damit ihrer institutionellen Identität. 

Claudia Feest: Die Frage nach einer staatlich anerkannten Ausbildung in zeitgenössischem Tanz wurde ständig diskutiert und bewegt. Im Vorwort zur Jubiläumsbroschüre 1998 hatte ich formuliert: „Die Tanzfabrik wird sich auch zukünftig für das in Berlin schon lange und immer wieder geforderte Ausbildungszentrum für zeitgenössischen Tanz mit ihrer Kompetenz und ihren Möglichkeiten einbringen.“ In Gesprächen mit dem Senat haben wir dieses Thema immer wieder gefordert: Ber-lin braucht eine Ausbildung für zeitgenössischen Tanz. Der Senat hielt dagegen, vor allem nach der Wende – es hieß: „Es gibt die Staatliche Ballettschule, das muss reichen. Für eine eigenständige zeitgenössische Tanzausbildung sind keine Mittel vorhanden.“ 

Eva-Maria Hoerster: Es gibt ein Papier vom 12. Juli 2004 zum Thema „Konzept für ein interdisziplinäres Tanzstudium Tanzfabrik Berlin“. Da haben wir beide zusammen mit Gisela Müller noch vor dem Tanzplan-Ausbildungsprojekt ein Modell erarbeitet. In dem Papier heißt es: „Die Tanzfabrik plant die Ausbildung in mehreren Stufen. Eine fünfmonatige Vorausbildung zur Orientierung von Menschen, die sich mit dem Gedanken einer Tanzausbildung tragen, begann am 15. Februar 2004. Eine weitere Vorausbildung beginnt im September 2004.“ Das ist heute das Dance Intensive-Programm. Und davor heißt es noch: „Für die weitere Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes und der zeitgenössischen Choreographie in Deutschland ist eine adäquate qualifizierende Ausbildungsstätte unverzichtbar. In der kulturpolitischen Diskussion zum Thema wurde dies für Berlin, wenn die Stadt sich als Tanzmetropole behaupten will, wiederholt gefordert.“ Das war ein Konzept, das wir kontinuierlich weiterentwickelt und dann auch im Zusammenhang mit der Tanzplan-Bewerbung aufgegriffen haben. Letztlich war es ein wichtiger Baustein für die Gründung des HZT. 

Claudia: Das wurde kulturpolitisch immer und immer wieder formuliert; die Idee einer Ausbildung war eine lang gehegte Forderung und mit Tanzplan Deutschland als Förderinstrument des Bundes gab es dann eine ernsthafte Chance, diese Idee zu realisieren. Die Ideen und Konzepte lagen aber schon lange vorher bereit. 

Eva-Maria: Die Ausschreibung von Tanzplan vor Ort fand 2005 statt; da ist unser Konzeptpapier, und natürlich auch weitere Konzepte, vor allem vom Dock 11, eingeflossen. Es gab im Vorfeld einen großen Runden Tisch in der Senatsverwaltung, bei dem wir Hortensia Völckers, der Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, und Madeline Ritter, Leiterin Tanzplan Deutschland, unsere Anliegen vorgetragen haben. Die Szene hatte sich sehr schnell darauf geeinigt, die Frage der Ausbildung ins Zentrum zu rücken. Das war damals überhaupt nicht strittig. Von der Senatsverwaltung wurden wir angefragt, ein Konzeptpapier zu schrei-ben, was es für eine zeitgenössische Tanzausbildung in Berlin eigentlich braucht und worum es dabei gehen soll. Barbara Kisseler, damals Kulturstaatssekretärin von Berlin, hat dieses Anliegen sehr unterstützt und diesen Prozess maßgeblich befördert, und Claudia wurde dann vom Kultur- und Wissenschaftssenat als Koordinatorin zur Einrichtung des Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz berufen. 

Claudia: Überhaupt wurden in diesen Jahren in Berlin und bundesweit für den Tanz grundsätzlich wichtige kulturpolitische Weichen gestellt und Verbände gegründet. Für die Tanzfabrik waren Eva-Maria und ich sehr engagiert dabei. So wurde zum Beispiel im Jahr 2000 der Rat für die Künste unter Mitwirkung großer und wichtiger Berliner Kulturinstitutionen gegründet; das haben wir direkt nach der ersten TanzNacht in der Akademie der Künste im Dezember 2000 mit vielen Akteuren gemeinsam auf den Weg gebracht. 

Im Jahr 2000 fand auch die Gründung des ztb statt, des Vereins Zeitgenössischer Tanz Berlin. Und ab 2004 war ich beteiligt daran, auf Bundesebene den Dachverband Tanz Deutschland (damals die Ständige Konferenz Tanz) auf den Weg zu bringen, der dann offiziell im März 2006 gegründet wurde. Es wurde immer wichtiger, sich für die Autonomie des Tanzes auf Bundesebene politisch einzusetzen. 

Dieses Interwiew erschien 2018 in der Dokumentation Remembering the Future – 40 Jahre Tanzfabrik Berlin.